Donnerstag, 31. Mai 2012

Die offene Linie



Das Schachbrett ist bekanntermaßen in 64 Felder aufgeteilt. Linien (senkrecht), Reihen (waagrecht) und Diagonalen (schräg) sind gedachte Verbindungen von Feldern von einem Brettrand zum  Anderen. Eine Linie bezeichnet man dann als offen, wenn auf ihr keine Bauern mehr vorhanden sind.

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Beispiel 1



In unserem Beispiel ist die d-Linie eine offene Linie. Man könnte eine offene Linie als eine Art Figurenpfad[1] bezeichnen. Auf diesem Pfad können Figuren von einer Brettseite zur Anderen gelangen, also beispielsweise in die gegnerische Stellung eindringen. Doch ist dieser Pfad für alle Figuren geeignet?


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Beispiel 2



Läufer und Springer sind keine Senkrechtgänger. Mit ihnen kann man eine offene Linie nicht ausnutzen.


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Das 5-Phasen-Modell

Die nächsten Beispiele verdeutlichen das typische Schema der Ausnutzung einer offenen Linie. Man unterscheiden folgende Phasen:

Phase 1: Das Öffnen der Linie.

Phase 2: Das Besetzen der offenen Linie mit Schwerfiguren.

Phase 3:Das Eindringen in die gegnerische Stellung - meistens in die 2. bzw. 7.Reihe  

Phase 4: Der Figurenschwenk von der Linie auf eine Reihe.

Phase 5: Das Ausbeuten der Reihe (geschieht oft durch Mattangriff).

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Beispiel 3



Als Senkrechtgänger sind Dame und Türme (Schwerfiguren) die geeigneten Figuren zur Benutung einer offenen Linie.

Phase 2: 
Besetzen der offenen Linie.
 1.Td1! Kf8
Der König kommt zu spät, um das folgende Eindringen des Turmes zu verhindern.


Phase 3: 
Das Eindringen in die gegnerische Stellung.
2.Td7 Tb8 3.Ke2 Ke8 

Phase 4: Wechseln von der Linie zur Reihe.
Phase 5: Ausbeutung der besetzten Reihe. Hier die Bindung von König und Turm an die Bauern f7 und b7. Weiß spielt mit einer Figur mehr, nämlich dem König!
4.Tc7±

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Beispiel 4:


Marco - Müller




 Keine offene Linie, doch hier gibt es den Aufrollpunkt b6. Weiß könnte nun mit axb6 die a-Linie öffnen.

 Phase 2: Besetzen der offenen Linie
1.Da1!
Bravo! Es besteht keine besondere Eile zur Öffnung der a-Linie. Erst einmal wird die dritte Schwerfigur auch noch in die a-Linie gebracht.

1...Tab8
1...bxa5? 2.Txa5 Tab8 3.Txa7++- ist indiskutabel.

Phase 1: Öffnen der Linie.
2.axb6


Phase 3: Der Turm dringt in die gegnerische Stellung ein.
2...axb6 3.Ta7+

Phase 4: Der eingedrungene Turm wechselt von der Linie auf die Reihe.
3...Kh8 4.Tc7


Phase 5: Ausbeutung der besetzten Reihe.
4...Ta8 5.Taa7 Txa7 6.Dxa7 Tb8 7.Th7+

Das Finale
7...Kg8 8.Th6 De8 9.Dh7+ Kf8 10.Txg6

1–0

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Beispiel 5:

Diese Stellung kam 1992 im Rückkampf zwischen Bobby Fischer und Boris Spasski in der ersten Partie auf das Brett. Weiß verfolgt die soeben gesehene Idee.

22.Ta3! Sdf6
Hier ist allerdings der Königsflügel eine noch bespielbare Fläche.

23.Tea1 23...Dd7 24.T1a2 Tfc8 25.Dc1 Lf8 26.Da1 De8



Weiß hat sich optimal in der a-Linie mit seinen Schwerfiguren postiert. Schwarz hat dies natürlich vorausgesehen und sich entsprechend dagegen gestellt. Der a-Turm muss diesmal nicht weichen.

27.Sf1!
Beginn eines genialen Manövers. Das Öffnen der a-Linie hätte nicht viel gebracht. 

27.axb5 axb5 28.Ta7 Txa7 29.Txa7 Ta8 (27...Le7 28.S1d2 Kg7 29.Sb1!)
Jetzt wird der weiße Plan klar: Öffnung der a-Linie, Abtausch der Schwerfiguren und dann mit Sa3 den b5-Bauer erobern.

29...Sxe4!
Schwarz opfert eine Figur für zwei Bauern. Angesichts des beschriebenen Planes ist das eine kluge Entscheidung!

29...Sd7 30.axb5 axb5 31.Txa8 Txa8 32.Txa8 Dxa8 33.Dxa8 Lxa8 34.Sa3+- 30.Lxe4²
Weiß gewann im 50. Zug. 1–0

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Beispiel 6

Spraggett – Marin, 1995
XABCDEFGHY
8-+-tr-+-+(
7+p+r+-mkp'
6p+-wq-zpp+&
5+-+P+-+-%
4-+-+RzP-+$
3+P+Q+-+P#
2-+-+-+P+"
1+-tR-+-+K!
xabcdefghy
Welche verheerende Wirkung zwei eingedrungene Türme auf der siebten/zweiten Reihe haben, soll dieses Beispiel verdeutlichen. Es ist die Phase 5: Beherrschung und Ausnutzung der Reihe.

33...Dxd5?!
Kann der Versuchung nicht widerstehen ¹33...h5=
34.Dxd5 Txd5 35.Te7+ Kg8 36.Tcc7
XABCDEFGHY
8-+-tr-+k+(
7+ptR-tR-+p'
6p+-+-zpp+&
5+-+r+-+-%
4-+-+-zP-+$
3+P+-+-+P#
2-+-+-+P+"
1+-+-+-+K!
xabcdefghy
Ein kurioses Bild! Schwarz besitzt einen Mehrbauer und befindet sich mit seinen Türmen in Phase 2. Die weißen Türme in Phase 5 geben Weiß dennoch einen deutlichen Vorteil.

36...Tb5?!
Deckt den falschen Bauern 36...Th5 37.Txb7²

37.Tg7+ Kh8 38.Txh7+ Kg8 39.Thg7+ Kh8 40.Txg6± Txb3 41.Tc5?
41.Txf6+-. Mehrbauer + Königsunsicherheit sollten hier sicher zum Sieg führen.

41....Kh7!²
Weiß gewann allerdings dennoch im 63. Zug. 1–0
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Beispiel 7:

Aljechin – Yates, 1922
XABCDEFGHY
8r+-+r+k+(
7+-tR-+-zp-'
6l+R+p+-zp&
5+-+psNp+P%
4p+-zP-mK-+$
3zPp+-zPPzP-#
2-zP-+-+-+"
1+-+-+-+-!
xabcdefghy
In diesem Beispiel hat Weiß wirklich eine fast optimale Aufstellung seiner Figuren erreicht. Schwarz hingegen hat sich gänzlich passiv zu verhalten. Unser besonderes Augenmerk gilt hier natürlich der einzigen offenen Linie. Weiß hat sie mit zwei Türmen besetzt (Phasen 1-3 sind erfüllt) und beherrscht sie sicher. Aber nun muss von der Linie auf die 7. Reihe gewechselt werden (Phase 4).

1.Tf7! Kh7
Schwarz kann mit keinem seiner Türme auf die c-Linie.
1...Tec8? 2.Te7 Txc6 3.Sxc6 Tc8 4.Txe6 Kf7 5.Td6+-;
1...Tac8 2.Txa6+-

2.Tcc7
Nun ist Phase 4 abgeschlossen.

2...Tg8 3.Sd7
Und sofort wird mit Phase 5 begonnen. Es droht nun Sf6+.

3...Kh8 4.Sf6!
Trotzdem!

4....Tgf8
XABCDEFGHY
8r+-+-tr-mk(
7+-tR-+Rzp-'
6l+-+psN-zp&
5+-+p+p+P%
4p+-zP-mK-+$
3zPp+-zPPzP-#
2-zP-+-+-+"
1+-+-+-+-!
xabcdefghy
5.Txg7!! Txf6 6.Ke5!
Phase 5  ist erfolgreich durchgeführt. 1–0

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Beispiel 8
Salwe - Rubinstein
XABCDEFGHY
8-mk-tr-+-+(
7+psn-+-+-'
6p+ptr-zp-+&
5zP-+-zp-zp-%
4-zPP+P+-zp$
3+-+-+P+-#
2-+R+NmKPzP"
1+-+-+R+-!
xabcdefghy
Hier sind die Phasen 1+2 schon abgeschlossen. Schwarz hat mit seinen Türmen die einzige offene Linie besetzt. Phase 3 (Das Eindringen in die gegnerische Stellung) lässt sich hier aber nicht so recht verwirklichen.

1...Se6!
Erst einmal nimmt  der Springer einen aktiveren Posten ein. Von hier aus droht er nach d4 oder f4 zu springen und bindet so den gegnerischen Springer an das Feld d2.

2.Tb1!
Ein sehr guter Zug! Einerseits droht Weiß nun selber mit b5 eine Linie zu öffnen, andererseits auch die wichtige 2. Reihe mit Tbb2 zu verteidigen. Schwarz muss nun sofort handeln.

2...Td2 3.Tbb2 Txc2 4.Txc2 Td3!
Wenn schon nicht die zweite, so wenigstens die dritte Reihe.

5.Tb2
Es drohte Tb3.

5...Kc7 6.c5?
Dies halte ich zumindest aus psychologischer Sicht für einen Fehler! Weiß beraubt sich der Möglichkeit, gelegentlich einmal mit b5 die b-Linie zu öffnen.

6...Kd7
Direkt 6...g4 7.fxg4 Sg5³ war etwas stärker.

7.g3
(7.h3 Ke7 8.Ke1 Sf4 9.Sxf4 exf4 10.Ke2 Te3+ 11.Kd1 Ke6µ 12.Kc1 Ke5 und der König dringt in die Stellung ein.)

7...hxg3+ 8.hxg3 g4!
Nun greift der schwarze Springer ins Spielgeschehen ein. Man beachte aber auch die Wirkung, des in die Stellung eingedrungenen Td3. Er fesselt den weißen Turm an den b-Bauer und nimmt dem König das wichtige Feld e3.

9.Sg1
(9.f4 exf4 10.gxf4 Sxf4 11.Sxf4 Tf3+ 12.Kg2 Txf4–+)

9...Sg5 10.Ke2 Ta3
Hält die Reihe. Im Grunde befinde wir uns nun in den Phasen 3+4.

11.f4 Sxe4 12.fxe5 fxe5 13.Kf1 Sxg3+ 14.Kg2 Sh5 15.Tf2
Endlich auch mal eine offene Linie.

15...Sf4+
Und schon wieder zu.

16.Kh1 Ta1
Phase 5: Mattangriff?
17.Td2+ Ke7  0–1

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Beispiel 9
Botvinnik – Boleslavsky, 1945
XABCDEFGHY
8-+-+-trk+(
7+p+-+pvl-'
6psnp+q+pzp&
5+-+-zp-+-%
4-zP-+P+-+$
3+PzP-sNNzP-#
2-+-wQ-zPP+"
1+-+R+-mK-!
xabcdefghy
Manchmal gestaltet sich der Übergang von Phase 3 zu Phase 4 etwas schwieriger. Weiß beherrscht hier die offene Linie, aber das Eindringen bereitet gewisse Probleme. Schwarz kontrolliert d7 und droht mit Lf6 und Td8 die weiße Kontrolle über die d-Linie aufzuheben.

26.c4!
(26.Dd6 Dxd6 27.Txd6 Tb8 28.c4 Kf8 29.c5 Ke7=. Der König kontrolliert nun das Einbruchsfeld d7 und irgendwann spielt Schwarz Td8 und tauscht den Turm ab.

26...Lf6 27.c5!
Nur mittels dieses energischen weißen Vorgehens kann der Vorteil der offenen d-Linie genutzt werden.

27...Sc8
Nun ist das Einbruchsfeld d7 freigeworden. 27...Td8? 28.Dxd8+! Lxd8 29.Txd8+ Kg7 30.cxb6+-. Der Turm in der schwarzen Stellung ist zu stark.

28.Dd7
Phase 3: Eindringen der Schwerfigur.

28...Dxb3 29.Dxb7
Phase 5: Ausnutzung der Reihe.

29...Lg5 30.Sxg5 hxg5 31.Dxa6 Se7 32.Db7+-
Weiß besitzt einen Mehrbauer und die Initiative. Er gewann im 46. Zug. 1–0
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Beispiel 10
Hübner – Karpow, Tilburg 1977
XABCDEFGHY
8r+r+-+-+(
7zp-+k+-vlp'
6-zp-+pzpp+&
5+-+n+-+-%
4-+-+-+-+$
3zP-+P+-zP-#
2-vL-sNPzPKzP"
1+-tR-+R+-!
xabcdefghy
Hier ist die Beherrschung der d-Linie auf überraschende Weise erreichbar.
1...Lh6! 2.e3
2.Tfd1 Txc1 3.Lxc1 Tc8µ mit Kontrolle der c-Linie.

2...Lxe3! 3.fxe3 Sxe3+ 4.Kf3 Sxf1 5.Sxf1 Txc1 6.Lxc1 Tc8
Phase 2: Besetzung der offenen Linie.

7.Lb2 Tc2
Phase 3: Eindringen in die Stellung.

8.Lxf6 Ta2
Phase 4: Der Figurenschwenk von der Linie auf eine Reihe.

9.Ke3 Txa3
Phase 5: Kontrolle und Ausnutzung der Reihe.
Schwarz gewann im 49. Zug. 0–1
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Beispiel 11
Der „Turmado“ als Sonderfall
XABCDEFGHY
8r+n+ntrk+(
7zp-+-+p+p'
6-wq-+-+pwQ&
5+-zp-zpN+-%
4-zpL+P+P+$
3+-+-+P+-#
2PzPP+-+-zP"
1+K+R+-+R!
xabcdefghy
Hier würde man wohl mit dem Eindringen des Turmes auf d7 rechnen. Aber es geschieht Überraschendes.
1.Td6!!
Phase 3: Der Turm dringt in die Stellung ein, allerdings auf ein dreifach gedecktes Feld. 1.Td7 gxf5 2.Dxf8+ Kxf8 3.Txf7+ Kg8 4.gxf5 Dh6 5.Tg1+ Kh8 6.Txa7 Df8 7.Tf7 Dh6 8.Ta7 führt nur zum Remis;
1.Se3!² wäre eine ruhige Alternative gewesen.

1...Dc7
1...Sexd6?? 2.Dg7#;
1...Scxd6?? 2.Se7+ Kh8 3.Dxf8#;
1...Dxd6 2.Sxd6 Sexd6 3.Ld5 Tb8 4.h4+-

2.Txg6+!
Phasen 4+5: Wechsel auf die Reihe und Ausnutzung der Reihe.

2...hxg6 3.Dxg6+ Kh8 4.Dh6+ Kg8 5.g5 Se7 6.g6! Sxg6 7.Dxg6+ Kh8 8.Dh6+ Kg8 9.Tg1+
Der Turm auf der zweiten offenen Linie entscheidet.

9...Sg7 10.Txg7# 
1–0






[1] Militärisch gesehen wäre dies vielleicht die Heerstrasse oder bei den Indianern der Kriegspfad gewesen.